Die Schweiz am Rande des Nervenzusammenbruchs

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Seit rund einem Jahr dominiert Covid-19 die öffentliche Debatte in der Schweiz. Es ist die erste echte Krise in unserem Land seit drei Generationen. Und sie demaskiert gnadenlos den Zustand der Eidgenossenschaft.

Hauen und stechen

Covid-19 geht uns tief unter die Haut. Die einen haben existentielle Ängste vor der Krankheit. Die anderen leiden massiv unter den einschränkenden Massnahmen. Vielen macht beides zu schaffen.

Offensichtlich gelingt es uns aber nicht, das Problem gemeinsam zu definieren und zu lösen. Statt dessen balgen sich „Covidioten“ mit „Hysterikern“, die Kantone rangeln mit dem Bund um Kompetenz, der Röstigraben brodelt, die Legislative pöbelt gegen die Exekutive, und die Mitglieder der Exekutive pfeifen auf die Kollegialität.

Die Ton in den Diskussionen ist dabei gehässig und persönlich. Die SVP hat schon lange sämtliche Beisshemmungen abgelegt. Sie orchestriert ein öffentliches Mobbing gegen Berset, als ob sich mit ihm die Pandemie einfach wegblasen liesse. Populistische Parteipolitik statt verantwortungsvolle Problemlösung. Aber ein Blick in die Kommentarzeilen der Tageszeitungen zeigt, dass die Nerven auch anderswo blank und die Diskussionskultur im Argen liegen. Als ob die Krise nicht schon unangenehm genug wäre, zerfleischen wir uns gegenseitig.

Es geht einmal mehr zu wie bei den alten Eidgenossen! Einmal mehr schafft es die Schweiz nicht, sich in der Krise zusammenzuraufen. Und einmal mehr zeigt sich, dass „Leadership“ in der Schweiz keinen Platz hat: zwar gelange es dem Bundesrat im ersten Lockdown für kurze Zeit die Volksseele hinter sich zu scharen, schon bald jedoch schlug das Pendel wieder in die übliche Kakophonie der Klugscheisser um. War Daniel Koch ein Leader in Corona? Wohl eher der ulkige Buchhalter Nötzli der Stunde.

Dümmliche Wissensphobie

Dass die Schweiz keine rationale Debatte zur laufenden Pandemiepolitik führt, hat auch mit der verbreiteten Wissenschaftsfeindlichkeit zu tun. Im Schweizer System sind Akademiker suspekt und Bodenständigkeit Trumpf. In der Schweiz bestimmt der Souverän die Wahrheit an der Urne. Das schlägt sich im Stammtisch-Niveau der Debatte nieder. Jede und jeder glaubt, einen wichtigen Senf dazugeben zu müssen, und auch der grösste Blödsinn wird monatelang widergekäut (beispielsweise dümmliche Argumentationen entlang des Präventionsparadoxes).

Natürlich hat die Science-„Täskforce“ in diesem Umfeld einen unmöglichen Stand. Der Ausflug aus dem Elfenbeinturm an die Schaltzentralen der Macht musste im Zangengriff zwischen unerfüllbarem Bedürfnis nach abschliessendem Wissen und postfaktischem Gejohle enden. Akademiker, die einen Wissensvorsprung reklamierten und daraus eine gewisse Interpretationshoheit ableiteten, werden vom Dunning-Kruger-Mob genüsslich zerlegt.

Doch das Problem der Wissensphobie geht aber über die Marginalisierung der Taskforce hinaus. Ein Virus mit langer Inkubationszeit verlangt nach vorausschauenden Entscheiden unter Unsicherheit. Wer nicht fähig ist, unklare Daten und Zusammenhänge zu interpretieren und darauf basierend pro-aktiv zu handeln, findet sich unweigerlich in der Sackgasse der Sachzwänge. Das unsägliche Geschwätz zu „Evidenz-basierten“ oder „Fakten-basierten“ Entscheiden verkennt die Unbarmherzigkeit des Faktischen und schafft damit die Grundlage für den Schweinezyklus von Verdrängung und Überreaktion.

Schreiende Hypokrisie

Covid-19 ist teuer. Ein realistisches Preisschild für die Schweiz dürfte im Bereich von 120-150 Milliarden Franken liegen. Bei dieser Gesamtsumme spielt die Strategie der Pandemiebekämpfung nicht einmal die erste Rolle: wer die erwarteten Toten einer Durchseuchungsstrategie zum üblichen Satz in Geld umrechnet, dürfte auf einen ähnlichen Betrag kommen wie der wirtschaftliche und soziale Schaden einer konsequenten Lockdown-Politik.

Relevant ist jedoch die Verteilungsfrage. Keine der beiden Seiten ist in dieser Frage ehrlich. Die Befürworter einer restriktiven Politik bleiben bis heute eine Antwort schuldig, wie die Kosten der Pandemiebekämpfung verteilt werden sollen. Trotz Sofort-Krediten und Härtefallhilfen tragen die geschlossenen Betriebe das Gros der Kosten – das ist ungerecht! Kein Wunder, dass aus diesen Bereichen der Widerstand wächst. Und es ist auch ungerecht, einfach den Jungen – welche unter den Massnahmen mehr leiden als unter der Pandemie – die fiskalische Rechnung zu präsentieren. Warum nicht zumindest ein Solidaritätsbeitrag von den Renten der 2. Säule? Es ist eine schreiende Hypokrisie, die Finanzierungsfrage einfach unter den Tisch zu wischen. Einmal mehr wird die Solidarität von Jung zu Alt zur Einbahnstrasse.

Umgekehrt hört auch exponentielles Wachstum nicht einfach auf, wenn Spitäler voll sind. Wer alle Einschränkungen aufheben will, soll ehrlicherweise eingestehen, dass er eine Triage in den Spitälern in Kauf nimmt. Im Krieg wird von jungen Männern erwartet, dass sie ihr Leben für die Freiheit ihres Landes opfern; vielleicht ist Covid-19 eine Krise, in der die Alten und Schwachen ihr Leben für die Freiheit ihres Landes hergeben? Hypokrisie ist nicht, diese Frage zu stellen, sondern so zu tun, als gingen Lockerungen ohne solche Konsequenzen. Und es ist auch hypokritisch, Lockerungen für seine eigene kleine Welt zu fordern, ohne den Zusammenhang im Ganzen anzuerkennen.

Hypokrisie dominiert auch das Theater rund um die Impfungen. Letzten Sommer hätte die Schweiz – ähnlich wie die USA oder Israel – grosse Bestellungen platzieren können. Es gab wohl zwei Gründe, warum wir es nicht gemacht haben: Von links wollte man nicht in Impfnationalismus verfallen, und von rechts wollte man kein Geld für Impfungen ausgeben, die noch nicht getestet waren (und schon gar nicht für den Covid-Hoax). Das Resultat ist die aktuelle Situation, in der die Schweiz gerade so schnell impft, wie sie Impfstoff erhält. Heute kritisiert rechts die unfähigen Beamten des BAG, die endlich genügend Impfungen kaufen sollen. Und links lobt die Impfpolitik Israels.

Fazit: kein Sonderfall

Im Selbstverständnis der Schweiz macht unser Land alles besser als alle anderen. In den Augen von Covid-19 sind wir ein mittelmässiges kleines Land – sicher nicht so erfolgreich wie Taiwan oder Neuseeland. Unsere Pandemie-Politik ist etwa so konsistent oder inkonsistent wie die unserer Nachbarn. In den Schadens-Abwägungen haben wir das Wohl der Wirtschaft etwas höher gewichtet als unsere Peers – wie so oft. Unsere Behörden erhalten die Note 4.25. Und wie alle anderen reichen Länder hat sich auch die Schweiz bei den Impfungen etwas vorgedrängt – wenn auch nicht so rüppelhaft wie Donald.

Die schrille Nabelschau wird von aussen wohl mit Belustigung zur Kenntnis genommen. Nur hier unterscheiden wir uns vom Rest der Welt. Der Mythos vom Sonderfall ist an der Realität der Krise zerbrochen.

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