Gekreisch um die Klimaseniorinnen

Was für ein Geschrei nach der Verurteilung der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zum Thema Klimaschutz. Die Linke reklamiert den Sieg und fordert subito zusätzliche Massnahmen gegen den Klimawandel. Und die Rechte echauffiert sich über die Anmassung und den „Grössenwahn“ (so meine Lieblingspropagandistin bei der NZZ) der Richter. Dabei hält keine der beiden Argumentationslinien einer halbwegs kritischen Beurteilung stand.

Nehmen wir zuerst die Position von Rösti & Somm. Sie läuft darauf hinaus, dass sich ein direktdemokratischer Entscheid vor keinem Gericht (und schon gar nicht fremden Richtern) zu erklären habe. Es ist ein arithmetisches Argument. Auf der einen Seite Millionen von Bürger/innen , auf der anderen ein paar Richter/innen. Unausgesprochen wird dafür ein Sonderfall für die Schweiz reklamiert. In anderen Ländern, wo Entscheide von Parlamenten gefällt werden, sind Verfassungs- und internationale Gerichte durchaus ok, aber eben nicht bei uns. Denn bei uns bestimmt das Volk. Die Frage hier muss deshalb lauten: rechtfertigt ein Mehrheitsentscheid in einem Plebsizit alles? Könnte also morgen per Volksinitiative eine Einschränkung der Religionsfreiheit (z.B. ein Islam-Verbot) durchgesetzt werden? Könnte das Volk in einen Referendum einem Gesetz zustimmen, das öffentlich geäusserte Zweifel an Willhelm Tell verbietet? Oder die Annektion der Krim beschliesst?

Die Europäische Menschenrechtskonvention setzt politischen Entscheiden gewisse Grenzen. Es geht um fundamentale Freiheitsrechte von Individuen oder Gruppen von Individuen, welche im politischen Entscheidungsprozess überstimmt werden. Insofern ist es eine zutiefst liberale Institution, welche den Einzelnen vor dem Kollektiv schützt. Die grundsätzliche Ablehnung von richterlichen Entscheiden gegen direktdemokratischen Entscheiden bedeutet dagegen: sobald ein politischer Entscheid an der Urne gefällt wird, gelten die individuellen Grundrechte nicht mehr. Das Volk kann die Minderheiten unwidersprochen überrollen! Es lebe die Ochlokratie!

Nun schiessen sich die Rechts(aussen)parteien auf den Gerichtshof ein, statt sich mit dem Inhalt des Schuldspruchs auseinanderzusetzen. Bei der SVP als Pöbelpartei war das zu erwarten, bei der FDP als ehemalige „staatstragende“ Partei (also als Verteidigerin der liberalen Institutionen) entlarvend. Dabei hat das Urteil ein gravierendes inhaltliches Problem.

Die Klage gegen die Schweiz wurde von einer Gruppe rühriger Damen eingereicht. In der Logik der Europäischen Menschenrechtscharta beanspruchen sie als „besonders vulnerabel“ einen Schutz ihres Recht auf Leben. Und das Gericht kam zum Schluss, die Schweiz mache tatsächlich zu wenig, um die Damen zu schützen. Meine Frage nun: was hätte denn die Schweiz tun sollen? Nehmen wir einmal kontrafaktisch an, unsere Land hätte in einem Kraftakt ihre ganze Wirtschaft auf CO2 neutral gestellt. Wären dann die Grundrechte der Frauen besser geschützt gewesen? Natürlich nicht, denn der direkte Einfluss der Schweiz auf den globalen Klimawandel ist vernachlässigbar. Es besteht also kein direkter kausaler Zusammenhang zwischen den Massnahmen der Schweiz zur Reduktion ihres CO2-Ausstosses und der Bedrohung des Lebens der Klimaseniorinnen. Juristisch übersetzt sind die Voraussetzung an die juristische Kausalität – die Causa – nicht gegeben, und folglich gibt es keine Basis für eine „Schuld“ der Schweiz. Somit können aus dem Urteil auch keine Klimaschutzmassnahmen abgeleitet werden, denn ein vorbildlicher Alleingang der Schweiz kann die Unversehrtheit der Klimaseniorinnen nicht garantieren.

Wichtig hier ist das Wort „direkt“ – der direkte kausale Zusammenhang. Der Klimawandel ist ein globales Problem. Auch wenn wir als kleines Land nur einen vernachlässigbaren direkten Einfluss haben, so tragen wir mit den anderen Staaten trotzdem eine kollektive Verantwortung. Bloss lässt sich diese Verantwortung eben nicht juristisch durchsetzen. Die Schweiz hat gegenüber den Klimaseniorinnen keine rechtliche Verpflichtung, ein komplexes globales Problem zu lösen.

So sehr ich mir griffigere Massnahmen für mehr Umwelt- und Klimaschutz wünsche: die Auseinandersetzung in Strassburg bringt uns nicht weiter. Vielmehr haben die Klimaseniorinnen (beziehungsweise Greenpeace) einen Beitrag zur Verhärtung der Fronten geleistet und damit der Sache einen Bärendienst erwiesen. Die bürgerliche Mehrheit wird sicherstellen, dass unser Land das Urteil ignoriert. Die Legitimität des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nimmt Schaden.

FDP – die unnötige Partei

Spätestens in der Frühlingssession ist es allen aufgefallen: die FDP hat die Kurve nicht gekratzt. Nach der schallenden Ohrfeige bei den letzten Wahlen wäre eine klare Profilierung nötig gewesen, um das Ruder herumzureissen. Statt dessen trudelt die Partei im Sturzflug auf den Abgrund zu.

Vielleicht liegt es am alles überschattenden Thema Corona, das die FDP total überfordert. Statt eine konstruktive, aufgeklärte und meinetwegen Massnahmen-kritische Position zu verfolgen, torkelt sie dem populistischen Gekreisch der SVP nach und verliert sich in Hüh-und-Hottismus und einer hysterischen Kritik an der Exekutive. Dabei ist sie selber im Bundesrat krass überrepräsentiert. Jüngster Höhepunkt dieser Komödie war der schrille Schrei nach einer PUK aufgrund eines unsorgfältig recherchierten Artikels in einer linken Tageszeitung – ja, da hat die FDP in der Tat den Ton angegeben.

Vielleicht liegt es ja auch – so die These der NZZ – am globalen Gegenwind gegen liberale Ideen. Autokratische Populisten, die Fragmentierung der Welt nach dem Ende der Pax Americana und protektionistische Tendenzen in den Wirtschaftsblöcken nehmen die liberalen Grundwerte in die Zange. Allerdings zweifle ich daran, dass diese internationalen Faktoren im Gallier-Dorf Schweiz wirklich eine Rolle spielen.

Das Grundproblem der FDP liegt vielmehr darin, dass sie keine Antworten hat für die Themen, welche die Schweiz beschäftigen. In den Positionspapieren der Partei wird immer wieder das Mantra „mehr Freiheit, weniger Staat“ wiederholt. Aber in der konkreten Sachpolitik schafft es die FDP nicht, daraus funktionierenden Lösungen abzuleiten. Gesundheitspolitik, Umweltpolitik, Ausländer, oder die diversen Knackpunkte in der Beziehung zur EU – nirgends in diesen Topthemen des Sorgenbarometers kann die Partei mit kohärenten Positionen punkten. Statt dessen eiert sie irgendwo mit sowohl-als-auch herum und hofft, dass die unsichtbare Hand alle Probleme einfach wegzaubert. Bloss in der Finanzpolitik (inklusive Finanzierung der AHV) verfolgt sie eine gerade Linie – immerhin das Verständnis buchhalterischer Sachzwänge lässt sich der FDP attestieren.

Ihre Perspektivlosigkeit widerspiegelt auch ein Personalproblem: es fehlt der Partei an intellektuellen Schwergewichten. War sie noch vor ein paar Jahrzehnten der Treffpunkt der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Elite (zuerst Militärkarriere, dann zur FDP…), hat sich diese Elite inzwischen in internationalisierter Selbstoptimierung verflüchtigt. Und die verbleibenden Opportunisten sind in Scharen zur SVP übergelaufen. Selbst die NZZ als ehemalige Hofnachrichten hat diese Abwanderung mitgemacht und orientiert sich darüber hinaus an den publizistisch heimatlosen AfD Wählern. Was bleibt, ist eine Parteileitung, die Themenführerschaft mit Marktumfragen verwechselt.

Im Kern war die FDP schon immer – ja, schon zu Alfred Escher’s Zeiten – keine liberale sondern lediglich eine wirtschaftsliberale Partei. Im Kalten Krieg mag das keinem aufgefallen sein. Aber heute drehen viele Problem genau um diesen Konflikt zwischen unregulierter Wirtschaft und individueller Freiheit: Datenschutz gegenüber Grossunternehmen, selbstbestimmte Work-Life-Balance vs Sachzwängen internationaler Konkurrenzfähigkeit, wachsende wirtschaftliche Ungleichheit vs. gleiche Startbedingungen, urbaner Lebensraum für die Menschen vs freie Fahrt für freie Bürger etc. etc. Als „freisinnige“ Partei müsste die FDP ja das politische Kompetenzzentrum für solche Fragen sein. Aber der unreflektierte Freiheitsbegriff der FDP reduziert sich auf die ungebändigte unternehmerische Freiheit und den Kampf gegen das Strassenverkehrsgesetz. Darum hat sie die intellektuelle Themenführerschaft zu Fragen des real existierenden Liberalismus schon lange an die GLP abgegeben.

Nun degradiert sich die FDP gerade zum Junior-Partner der SVP – wirtschaftsliberal, aber sonst national-konservativ. Gössi hat das Problem zwar erkannt, ihr Versuch zu einer Neuausrichtung ist jedoch offensichtlich gescheitert. Kein Wunder, bereitet sie ihren Abgang vor. Dass ihre eigenen Leute in zentralen Fragen der sanft renovierten Parteilinie nicht folgen, hat sich jüngst beim unsäglichen Kuhhandel zur Agrarpolitik gezeigt. Wer also FDP wählt, kann bei den nächsten Wahlen also getrost gleich Liste 1 einlegen. Und die wenigen FDPler, die eine wirklich liberale Politik möchten, werden irgendwann zur GLP überlaufen. Die FDP ist nicht mehr nötig.

Frauen, packt die Gleichberechtigung!

Die hiesige Presselandschaft hat ausführlich zum 50. Geburtstag des Frauenstimmrechts berichtet. Kernaussage: schön, dass es die Schweiz damals doch noch geschafft hatte, aber seither sind wir auf dem Weg zur Gleichberechtigung nur sehr langsam vorwärts gekommen und noch meilenweit entfernt vom Ziel. Als Beleg dienen beispielsweise die Lohnschere (mit unterschiedlichem Anteil erklärender Variablen), oder der Anteil von Frauen in Führungsfunktionen. Dass bei diesen Statistiken, die Gleichberechtigung nicht funktioniert hat, ist auch aus männlicher Perspektive offensichtlich. So hat kürzlich bei einer Umfrage unter CEO die Mehrheit bestätigt, dass ihr Weg nach oben als Frau schwieriger gewesen wäre. Als Mann mit Jahrgang 1968 schliesse auch ich mich dieser Einschätzung an. Wenn ich zurück an meine Schulzeit denke, mein Studium, meine ersten Jobs, meine Karriere, die automatische Arbeitsteilung bei der Geburt unserer Kinder, mein Gewicht in Diskussionen mit anderen – überall hatte ich als Mann einen Vorteil.

Nur, ist das heute wirklich die relevante Frage? Sind Männer und Frauen in meinem Alter nicht lediglich das Abbild der Vergangenheit? Es tut mir leid für all die gleichaltrigen Frauen, die mehr Potential hatten als ich und dann irgendwo auf der Strecke blieben, weil sie als Frau benachteiligt wurden. Aber müsste die zukunftsgerichtete relevante Frage nicht heissen: Bietet die Schweiz heute einer jungen Frau die gleichen Startbedingungen wie einem jungen Mann?

Meine These: eine junge Frauen hat – wenn sie das wirklich will – heute die gleichen Möglichkeiten wie ein junger Mann. Es gibt praktisch keinen Karriereweg mehr, der ihnen nicht offen stünde – sei es Berufswahl oder Aufstieg. Ist diese Aussage absurd? Dann machen Sie die Probe auf’s Exempel: fragen auch Sie heute einen Teenager, ob sie im Hinblick auf Möglichkeiten und Chancen lieber Mädchen oder Jungs wären – ich habe den Test mit meiner Tochter und meinem Sohn gemacht. Mancher junge Mann sieht heute seine weiblichen Altersgenossinnen im Vorteil (Gymiquote, keine Zeitverschwendung mit sinnlosem Militärdienst, Förderungsprogramme, und als Bonus Aussicht auf eine längere Lebenserwartung).

Ich möchte nicht falsch verstanden werden: natürlich sind viele Anliegen der Frauen unerfüllt und hoch aktuell. All das blöde Machotum, sexistische Vorurteile und die lauernde sexuelle Gewalt sind offensichtlich. Aber wenn wir wollen, dass wir in 20 Jahren in der Frage weiter sind, braucht es auch eine klare Message an die jungen Frauen: wenn ihr Gleichberechtigung wollt, dann müsst ihr sie nehmen (sie liegt vor euch auf dem Tisch)!

Wenn wir Gleichberechtigung als „gleiche Starbedingung“ definieren, heisst das nicht, dass alle ihre Träume erreichen. Scheitern gehört dazu – für Frauen und Männer. Bloss: Wenn ich meiner Tochter sage „Du bist eigentlich die beste, aber Du wurdest als Frau benachteiligt“ und meinen Sohn „Du hast es gut gemacht, aber zum Erfolg must Du Dich mehr anstrengen“, wer wird dann im nächsten Versuch reüssieren? Wer wir sich nur als Opfer von Diskriminierung definiert, kapituliert statt zu kämpfen.

Und noch eine Einsicht, die viele Männer erst in der Midlife Crisis realisieren: jeder Entscheid im Leben hat einen Preis. Eine Frau, die CEO werden will, wird auch in einer gleichberechtigten Welt dafür einen ähnlichen Preis bezahlen müssen wie ein Mann – und auch sie wird sich im Herbst ihrer Karriere fragen, ob das wert war.

Natürlich kommt das Gegenargument der Frauen in ihrer Doppelrolle. Aber ist nicht auch das eine Wahl, und zwar eine Wahl, die schon mit der Partnerwahl beginnt? Niemand zwingt heute eine junge Frau, mit einem altmodischen Macker Kinder zu machen. Es gibt heute viele coole und attraktive junge Männer, welche keine Lust auf die alten Rollenspiele haben. Und wenn die Möchtegern-Patriarchen auf dem Partnermarkt keine unterwürfigen Frauen mehr finden, hat auch das einen äusserst positiven pädagogischen Effekt auf die Spezies Mann.

Die Schweiz am Rande des Nervenzusammenbruchs

Seit rund einem Jahr dominiert Covid-19 die öffentliche Debatte in der Schweiz. Es ist die erste echte Krise in unserem Land seit drei Generationen. Und sie demaskiert gnadenlos den Zustand der Eidgenossenschaft.

Hauen und stechen

Covid-19 geht uns tief unter die Haut. Die einen haben existentielle Ängste vor der Krankheit. Die anderen leiden massiv unter den einschränkenden Massnahmen. Vielen macht beides zu schaffen.

Offensichtlich gelingt es uns aber nicht, das Problem gemeinsam zu definieren und zu lösen. Statt dessen balgen sich „Covidioten“ mit „Hysterikern“, die Kantone rangeln mit dem Bund um Kompetenz, der Röstigraben brodelt, die Legislative pöbelt gegen die Exekutive, und die Mitglieder der Exekutive pfeifen auf die Kollegialität.

Die Ton in den Diskussionen ist dabei gehässig und persönlich. Die SVP hat schon lange sämtliche Beisshemmungen abgelegt. Sie orchestriert ein öffentliches Mobbing gegen Berset, als ob sich mit ihm die Pandemie einfach wegblasen liesse. Populistische Parteipolitik statt verantwortungsvolle Problemlösung. Aber ein Blick in die Kommentarzeilen der Tageszeitungen zeigt, dass die Nerven auch anderswo blank und die Diskussionskultur im Argen liegen. Als ob die Krise nicht schon unangenehm genug wäre, zerfleischen wir uns gegenseitig.

Es geht einmal mehr zu wie bei den alten Eidgenossen! Einmal mehr schafft es die Schweiz nicht, sich in der Krise zusammenzuraufen. Und einmal mehr zeigt sich, dass „Leadership“ in der Schweiz keinen Platz hat: zwar gelange es dem Bundesrat im ersten Lockdown für kurze Zeit die Volksseele hinter sich zu scharen, schon bald jedoch schlug das Pendel wieder in die übliche Kakophonie der Klugscheisser um. War Daniel Koch ein Leader in Corona? Wohl eher der ulkige Buchhalter Nötzli der Stunde.

Dümmliche Wissensphobie

Dass die Schweiz keine rationale Debatte zur laufenden Pandemiepolitik führt, hat auch mit der verbreiteten Wissenschaftsfeindlichkeit zu tun. Im Schweizer System sind Akademiker suspekt und Bodenständigkeit Trumpf. In der Schweiz bestimmt der Souverän die Wahrheit an der Urne. Das schlägt sich im Stammtisch-Niveau der Debatte nieder. Jede und jeder glaubt, einen wichtigen Senf dazugeben zu müssen, und auch der grösste Blödsinn wird monatelang widergekäut (beispielsweise dümmliche Argumentationen entlang des Präventionsparadoxes).

Natürlich hat die Science-„Täskforce“ in diesem Umfeld einen unmöglichen Stand. Der Ausflug aus dem Elfenbeinturm an die Schaltzentralen der Macht musste im Zangengriff zwischen unerfüllbarem Bedürfnis nach abschliessendem Wissen und postfaktischem Gejohle enden. Akademiker, die einen Wissensvorsprung reklamierten und daraus eine gewisse Interpretationshoheit ableiteten, werden vom Dunning-Kruger-Mob genüsslich zerlegt.

Doch das Problem der Wissensphobie geht aber über die Marginalisierung der Taskforce hinaus. Ein Virus mit langer Inkubationszeit verlangt nach vorausschauenden Entscheiden unter Unsicherheit. Wer nicht fähig ist, unklare Daten und Zusammenhänge zu interpretieren und darauf basierend pro-aktiv zu handeln, findet sich unweigerlich in der Sackgasse der Sachzwänge. Das unsägliche Geschwätz zu „Evidenz-basierten“ oder „Fakten-basierten“ Entscheiden verkennt die Unbarmherzigkeit des Faktischen und schafft damit die Grundlage für den Schweinezyklus von Verdrängung und Überreaktion.

Schreiende Hypokrisie

Covid-19 ist teuer. Ein realistisches Preisschild für die Schweiz dürfte im Bereich von 120-150 Milliarden Franken liegen. Bei dieser Gesamtsumme spielt die Strategie der Pandemiebekämpfung nicht einmal die erste Rolle: wer die erwarteten Toten einer Durchseuchungsstrategie zum üblichen Satz in Geld umrechnet, dürfte auf einen ähnlichen Betrag kommen wie der wirtschaftliche und soziale Schaden einer konsequenten Lockdown-Politik.

Relevant ist jedoch die Verteilungsfrage. Keine der beiden Seiten ist in dieser Frage ehrlich. Die Befürworter einer restriktiven Politik bleiben bis heute eine Antwort schuldig, wie die Kosten der Pandemiebekämpfung verteilt werden sollen. Trotz Sofort-Krediten und Härtefallhilfen tragen die geschlossenen Betriebe das Gros der Kosten – das ist ungerecht! Kein Wunder, dass aus diesen Bereichen der Widerstand wächst. Und es ist auch ungerecht, einfach den Jungen – welche unter den Massnahmen mehr leiden als unter der Pandemie – die fiskalische Rechnung zu präsentieren. Warum nicht zumindest ein Solidaritätsbeitrag von den Renten der 2. Säule? Es ist eine schreiende Hypokrisie, die Finanzierungsfrage einfach unter den Tisch zu wischen. Einmal mehr wird die Solidarität von Jung zu Alt zur Einbahnstrasse.

Umgekehrt hört auch exponentielles Wachstum nicht einfach auf, wenn Spitäler voll sind. Wer alle Einschränkungen aufheben will, soll ehrlicherweise eingestehen, dass er eine Triage in den Spitälern in Kauf nimmt. Im Krieg wird von jungen Männern erwartet, dass sie ihr Leben für die Freiheit ihres Landes opfern; vielleicht ist Covid-19 eine Krise, in der die Alten und Schwachen ihr Leben für die Freiheit ihres Landes hergeben? Hypokrisie ist nicht, diese Frage zu stellen, sondern so zu tun, als gingen Lockerungen ohne solche Konsequenzen. Und es ist auch hypokritisch, Lockerungen für seine eigene kleine Welt zu fordern, ohne den Zusammenhang im Ganzen anzuerkennen.

Hypokrisie dominiert auch das Theater rund um die Impfungen. Letzten Sommer hätte die Schweiz – ähnlich wie die USA oder Israel – grosse Bestellungen platzieren können. Es gab wohl zwei Gründe, warum wir es nicht gemacht haben: Von links wollte man nicht in Impfnationalismus verfallen, und von rechts wollte man kein Geld für Impfungen ausgeben, die noch nicht getestet waren (und schon gar nicht für den Covid-Hoax). Das Resultat ist die aktuelle Situation, in der die Schweiz gerade so schnell impft, wie sie Impfstoff erhält. Heute kritisiert rechts die unfähigen Beamten des BAG, die endlich genügend Impfungen kaufen sollen. Und links lobt die Impfpolitik Israels.

Fazit: kein Sonderfall

Im Selbstverständnis der Schweiz macht unser Land alles besser als alle anderen. In den Augen von Covid-19 sind wir ein mittelmässiges kleines Land – sicher nicht so erfolgreich wie Taiwan oder Neuseeland. Unsere Pandemie-Politik ist etwa so konsistent oder inkonsistent wie die unserer Nachbarn. In den Schadens-Abwägungen haben wir das Wohl der Wirtschaft etwas höher gewichtet als unsere Peers – wie so oft. Unsere Behörden erhalten die Note 4.25. Und wie alle anderen reichen Länder hat sich auch die Schweiz bei den Impfungen etwas vorgedrängt – wenn auch nicht so rüppelhaft wie Donald.

Die schrille Nabelschau wird von aussen wohl mit Belustigung zur Kenntnis genommen. Nur hier unterscheiden wir uns vom Rest der Welt. Der Mythos vom Sonderfall ist an der Realität der Krise zerbrochen.